Pello-Who? a Star from a Star

Ich war alles. Geliebt – und verlassen. Klar – und zerrissen.
Gefesselt – und frei. Jetzt stehe ich da.
Nicht, weil alles leicht war – sondern weil ich mich entschieden habe, nicht mehr gegen mich zu leben.

Ich bin die, die durch das Feuer ging – und nicht verbrannte, sondern glühte. Das hier ist kein Anfang.
Es ist eine Erinnerung: Ich bin schon lange auf dem Weg.
Jetzt gehe ich ihn sichtbar. Ich habe gewählt, nicht mehr klein zu bleiben, um andere nicht zu stören. Ich habe gesprochen – nicht, weil ich musste, sondern weil mein Schweigen nicht mehr wahr war.

Ich bin die, die nicht kämpft – sondern klar ist. Und mein Weg ist sichtbar – für jene, die Wahrheit atmen können.

Vom kleinen Mädchen zur unerschütterlichen Kriegerin

Mein Name ist Fatma Nupelda Bicen.
Ich wurde 1997 in Istanbul geboren und kam im Alter von etwa zwei Jahren als Flüchtlingskind nach Deutschland.

Meine Kindheit war wunderschön: Wir waren ständig draußen, spielten im Dreck und verbrachten die heißen Sommertage bis spät in die Nacht auf den Straßen. Meine Familie nannte mich damals liebevoll „Çete Başı“ – was so viel bedeutet wie „Mafia-Boss“. Wir stellten oft allerhand Unsinn an, und ich galt meist als Anführerin – manchmal zu Recht, manchmal eher durch Ruf als durch Tat.

Einmal trommelte ich all meine Cousinen zusammen mit dem Plan, eine Nacht lang nicht nach Hause zu gehen. Ich wollte, dass wir unter freiem Himmel schlafen – ganz wild, ganz frei. Am Ende zogen wir es doch nicht durch… und kassierten stattdessen eine ordentliche Tracht Prügel.


Mit der Zeit veränderte sich vieles.
Je älter ich wurde, desto mehr Freiheiten verlor ich – denn ich war ein Mädchen. Und in unserer Kultur bedeutet das, dass es Grenzen gibt.

Schon mit etwa zehn, elf Jahren begannen die ersten Kommentare über meine Kleidung. Enge Hosen seien „nicht angemessen“. Für wen ich mich denn hübsch machen wolle? Wen ich damit zu locken versuchte?

Mit dreizehn spürte ich den Entzug meiner Freiheiten besonders schmerzhaft. Es war, als hätte sich die Welt plötzlich enger geschnürt um meinen Körper, um meine Gedanken, um mein ganzes Sein:

Während andere in meinem Alter gemeinsam ins Schwimmbad gingen, ins Kino, shoppen oder sich einfach bei Freunden trafen, war all das für mich nicht mehr erlaubt.

Ich stand am Fenster und beobachtete die Welt, die sich draußen weiterdrehte – ohne mich.
Die Räume, in denen ich lebte, wurden kleiner. Aber der Ruf in mir wurde größer.


Einmal fuhr ich heimlich in die Stadt. Ich wollte einfach einen Oreo-Shake trinken, mit meinen Freunden lachen, ein bisschen Spaß haben. Doch ich flog auf.

Aus Angst vor der Strafe, die mich erwartete, ging ich nicht nach Hause, sondern floh zu meiner Cousine. Doch es dauerte nicht lange – dann standen meine Eltern vor der Tür.

Ich versteckte mich im Badezimmer, hinter der Tür, noch bevor sie mich entdecken konnten. Mein Vater war zornig. Er durchsuchte jede Ecke, was meiner Tante gar nicht gefiel – denn ihre Wohnung war nicht aufgeräumt. Als sie mich schließlich hinter der Tür entdeckte, begegneten sich unsere Blicke.
Sie sah die grausame Angst in meinen Augen. Und trotzdem zerrte sie mich aus meinem Versteck und rief nach meinen Eltern.

Wir wohnten im selben Mehrfamilienhaus, nur ein Stockwerk unter ihr. Als mein Vater mich sah, trat er auf mich zu. Ich flehte ihn an, mich nicht umzubringen. Er tat es nicht.
Er prügelte nur auf mich ein. Vom zweiten Stockwerk bis hinunter zu unserer Wohnung.

Ich war gelähmt vor Schmerz, während seine Fäuste wieder und wieder mein Gesicht trafen – als hätte er einen Rhythmus gefunden, der ihm gefiel. Ich hob meine Arme, um mich zu schützen. Doch das machte ihn nur wütender. Ich sollte alles still ertragen, ohne Widerstand.

Und obwohl ich meine Hände vom Gesicht nahm, damit er mich „richtig“ treffen konnte, formte sich in mir ein Widerstand, den man mit bloßem Auge nicht sehen konnte. Er war still. Aber er war da.


Das Leben einer Frau ist in einer solchen Kultur alles andere als einfach.

Schon im frühesten Alter hörten wir Geschichten über Frauen, die angeblich die „Ehre“ ihrer Familie beschmutzt hatten – und deshalb sterben mussten.

Die schlimmste dieser Geschichten hörte ich in der Türkei, als ich bei meinen Cousinen war. Es ging um eine Verwandte: Sie soll während der Abwesenheit ihrer Familie ihren Freund zu sich nach Hause eingeladen haben. Ihr Vater erwischte die beiden – und erstach den jungen Mann. Die Tochter konnte fliehen.

In meinem Magen breitete sich ein ekelerregendes Gefühl aus.
Doch meine Cousinen sprachen über das Mädchen, als wäre sie das Monster.

„Wie konnte sie ihrer Familie das antun?“
„Was für eine Schlampe.“

Dass sie dabei gleichzeitig ihre eigenen Freiheiten verurteilten – das schien ihnen nicht bewusst zu sein.
Aber wie auch? Sie lebten in der Türkei, eingebettet in ein System, das solche Gedanken normalisiert.

Ich hingegen wuchs in Deutschland auf. Und ich spürte tief in mir, dass es eine andere Welt geben musste. Ein anderes Bewusstsein. Ein anderes Verständnis von Leben, Möglichkeiten – und Gerechtigkeit.


Der Entzug meiner Freiheit führte mich in die Bibliothek – sie lag direkt vor unserer Haustür, deshalb durfte ich oft dorthin.

Ich begann, mich in Büchern zu verstecken. Ich lebte Leben, die nicht meine waren – aber die mich fühlen ließen, als wäre ich mittendrin. Sie zeigten mir: Auch in einem geschlossenen Raum kann man weit reisen. Tief gehen.
Die Helden meiner Lieblingsgeschichten lehrten mich vor allem eines: Es gibt immer einen Ausweg.
Jede noch so aussichtslose Lage ist nur ein Aggregatzustand – veränderlich.
Und es lohnt sich zu kämpfen. Selbst wenn dir der Tod mit einem Grinsen entgegenblickt.

So entwickelte ich einen starken Kampfgeist. Ich begriff: Jede Situation ist verhandelbar. Jedes Problem birgt eine Lösung.

Doch ich entwickelte auch ein anderes, schmerzhafteres Bewusstsein: Mein Leben gehörte nicht mir. Meine Gedanken, meine Gefühle, meine Entscheidungen – sie waren nicht meine eigenen. Sie gehörten meiner Familie. Also glaubte ich, der einzige Weg, mir mein Leben zurückzuholen, sei der Tod. Ich weiß, das klingt verrückt. Traurig. Grausam.
Aber dieser Gedanke gab mir Kraft. Denn wenn ich bereit war, für das, was ich wollte, zu sterben –
Dann gehörte mein Leben wieder mir.

Und wenn man einmal keine Angst mehr vor dem Tod hat –
Dann kann einem auch der Ehrenmord den Buckel runterrutschen.


So begann ich, Strategien zu entwickeln.
Ich wurde zur Darstellungskünstlerin. Zur Meisterlügnerin.
Ich lebte zwei Leben – schon im frühen Alter. Von kleinen Tricksereien wie einem erfundenen Klassenessen, bis hin zu gefälschten Elternbriefen für einen Klassenausflug – ich spielte ein gefährliches Spiel. Ein Spiel um Freiheit.

Als mein Vater operiert wurde und ich dadurch alleine zu Hause war, nutzte ich die Gelegenheit, um auszugehen.
Ich landete im Club. Und wurde erwischt. Ich dachte, das wäre mein Ende. Denn die Drohungen waren real – sie begleiteten mich seit Jahren. Einmal, an einem frühen Nachmittag, spazierte ich alleine, als mein Vater anrief. Er fragte, wo ich sei.
Als ich antwortete, dass ich einfach nur ein wenig unterwegs war, wurde er wütend:
„Wenn du so weitermachst, bringen dein Bruder und ich dich in den Wald und töten dich.“

 

Ein anderes Mal kämpfte ich darum, an einer angeblichen Klassenfahrt teilnehmen zu dürfen – in Wirklichkeit wollte ich mit meinen Freunden zum Edersee. Mein Vater schlug mir ins Gesicht und warf mich aus der Wohnung. Doch ich hörte nicht auf, zu fragen.

Später versuchte meine Schwester, mit mir zu reden. Sie wollte mich zur Vernunft bringen. Aber ich zeigte keine Spur von Rückzug.
Sie sagte: „Mit dieser Einstellung bringst du dich selbst um.“ Ich antwortete nicht. Ich schmiss sie aus meinem Zimmer.


Nach dem Vorfall im Club drohte mir meine Mutter, mich nicht mehr zur Schule zu schicken.
Dabei war genau das lange mein Endgame gewesen. Ich hielt zwar nicht viel vom Bildungssystem – aber ich investierte meine Energie hinein. In der Hoffnung, dass mir ein Abschluss das Tor zur Uni öffnen würde.
Ein selbst erkämpftes Ticket – raus aus dem Gefängnis.

Doch als ich am Ende meiner Abi-Zeit angekommen war, dämmerte mir schnell: Es waren absurde Träume gewesen. Meine Eltern würden mich niemals gehen lassen. Nicht freiwillig. Der einzige Weg – so wurde es mir eingeredet – wäre es, zu heiraten.
Meine Freiheit in die Hände eines Mannes zu legen. Von einem Diktator zum nächsten. Aber südländische Männer sind nicht mein Typ. Und überhaupt – meine Freiheit sollte niemandem gehören.

Ich wollte sie selbst halten. In meinen eigenen Händen.


Die Schule war für mich immer so etwas wie ein Safespace gewesen.
Keine starke Kontrolle, keine heftigen Strafen – viel Raum, einfach ich selbst zu sein. Doch mit dem Abitur endete diese Zeit.
Und plötzlich war da wieder viel zu viel Zuhause. Viel zu viel Schweigen. Viel zu viel Ich. Ich verbrachte so viel Zeit wie noch nie zuvor allein in meinem Zimmer. Mit mir selbst. Mit meinen Gedanken.

Wo ich vorher stark gewesen war, machte sich nun eine tiefe Einsamkeit in mir breit. Meine Familie sah mich als „die Deutsche“ –
und ich fühlte mich immer weniger zugehörig. Obwohl ich mit meinen Eltern unter einem Dach lebte, begegneten wir uns kaum.
Meine Mutter kontrollierte hin und wieder, ob ich in meinem Zimmer war – aber echte Nähe gab es nicht.
Keinen echten Kontakt zu irgendwem. Ich musste etwas tun. Ich musste tricksen.

Also suchte ich mir einen Job – mein Plan: Auch dann „arbeiten“ zu gehen, wenn ich eigentlich Zeit mit Freunden verbringen wollte.
Ein Schlupfloch in die Welt. Doch mein erster Arbeitstag war auch mein letzter.


Mit meinen letzten zehn Euro tankte ich – Geld, für das ich später noch dankbar sein würde.

Ich fuhr zur Arbeit. Doch keine Stunde später standen mein Bruder und meine Mutter plötzlich vor mir. Sie meldeten mich bei meinem Chef ab. Endgültig. Ich bat sie auf Kurdisch, kurz mit mir rauszugehen – nur ein Moment, nur ein Gespräch.
Doch sie ignorierten mich. Etwas in mir zerbrach. Wieder verlor ich ein Stück meines eigenen Lebens.
Ein Stück hart erkämpfter Freiheit.

Ein heftiges Gefühl stieg in mir auf. Und ich entschied, dieses Gefühl nicht zu unterdrücken – sondern zu nutzen.

Mein Bruder befahl meiner Mutter, mich nicht alleine fahren zu lassen. Ich lehnte ab – laut, aggressiv. Und sie wussten:
Wenn ich so war, gab es kaum etwas, das mich noch aufhalten konnte. Also ließen sie mich. Vorerst.

Im Auto traf ich meine Entscheidung: Ich würde nicht nach Hause fahren. Ich musste raus. Musste meine Wut rauslassen. Meine tiefe Traurigkeit. Bevor ich mich wieder selbst in Ketten legte.


Doch mir fiel schnell auf: Sie verfolgten mich.

Wieder überkam mich dieses heftige Gefühl. Der Moment war reine Absurdität. Was hatte ich getan, dass man mich so streng kontrollieren, so hart gefangen halten musste?

Aus dem Affekt heraus entschied ich: Ich fahre zur Polizei. Doch auf dem Weg dorthin breitete sich Angst in mir aus.
„Wenn ich dort ankomme…
wenn meine Familie weiß, dass ich bereit bin, diesen Schritt zu gehen…und sie mich noch vor dem Revier abfangen…
war das dann meine letzte Chance gewesen?“

An einer roten Ampel hielt ein Polizeiwagen direkt neben mir. Das ist die Lösung! dachte ich. Ich machte das Warnlicht an, schaute verzweifelt zu dem Beamten. Aber er bemerkte mich nicht. Mein Herz raste.
War das wirklich meine letzte Gelegenheit gewesen?

Vor dem Revier parkte ich so schlecht wie nie zuvor, stürmte aus dem Auto. Zwei Polizisten kamen auf mich zu.
„Sie haben falsch geparkt…“ Doch bevor sie ihren Satz beenden konnten, brach es aus mir heraus:
Bitte helfen Sie mir. Meine Mutter und mein Bruder verfolgen mich!“ Sie begleiteten mich nach Hause.
Dort konnte ich meine Tasche packen. Meine Mutter redete weinend auf mich ein.
Flehte. Erklärte. Doch es war zu spät.
Das heute war deine letzte Chance gewesen.

Und ich hatte sie genutzt.


Ich zog für drei Monate in ein Frauenhaus.
Fand einen Sommerjob bei VW und arbeitete an den Wochenenden als Kellnerin. Ich sparte, bis ich genug Geld hatte, um in eine andere Stadt zu ziehen. In Frankfurt bezog ich ein WG-Zimmer und begann ein Studium in Bioverfahrenstechnik –
hauptsache etwas, das „fancy“ klang und später gutes Geld bringen würde.

Etwas, das meinem neuen Selbstbild gerecht werden sollte. Doch warum fühlte ich mich noch immer gefangen?
Ich war doch weg. Weg von zu Hause. Weg von Kontrolle. Unter meiner eigenen Obhut. Warum ging es mir dann schlechter als zuvor?

Es fühlte sich an,
als hätte ich den großen, bösen Drachen besiegt – nur um festzustellen, dass mir der Kampf eine Richtung gegeben hatte.
Ein Ziel. Eine Kraft. Und nun war da…nichts.

Ich brach mein Studium ab. Auch wenn meine Freunde sagten, die Phase der Selbstfindung sei vorbei. Dass ich mich nun einfach fügen müsse. Da ging in mir ein Warnlicht an. Sie klangen wie meine Eltern. Grenzen, Grenzen, Grenzen... Aber mein Bewusstsein war zu diesem Zeitpunkt bereits 21 Jahre lang darauf trainiert, Grenzen nicht als Realität zu akzeptieren. Grenzen waren Illusionen.
Sie wurden erst dann wirksam, wenn man an sie glaubte.


Man nannte mich naiv, weil ich es wagte, anders zu denken.
Anders zu fühlen. Weil ich die Welt nicht als etwas Festgemeißeltes sah, sondern als einen weichen Klumpen Knete,
den ich formen wollte – formen musste, um mich den Zwängen zu entziehen. Meine Kultur hatte mir von Anfang an gesagt,
wer ich als Frau zu sein hatte – welchen Raum ich einnehmen durfte. Doch die westliche Kultur war nicht anders.

Nur trug sie ihre Zwänge eleganter. Sie nannte sie „Normen“. Verpackte sie als Selbstverständlichkeiten. So selbstverständlich,
dass kaum jemand auf die Idee kam zu fragen:

Wer hat das eigentlich so beschlossen? Denn ohne uns Menschen gibt es kein „Muss“. Kein „So ist es eben“. Wir haben diese Regeln erschaffen – und nun formen sie uns zurück. Richten uns zu.


Mein kritischer Blick auf Normen und Regeln führte mich zur Soziologie – meine heiß begehrte Soziologie.

Ich vergleiche sie gerne mit der roten Pille aus der Matrix: Einmal eingenommen, gibt es kein Zurück mehr.

Die Soziologie hat es schwer, ein einheitliches Untersuchungsobjekt zu benennen. Niklas Luhmann etwa fragt,
wie soziale Ordnung überhaupt möglich ist. Bruno Latour geht noch weiter – er entgrenzt das Soziale,
weitet es aus auf Dinge, Objekte, Umwelten. Nicht nur Menschen schaffen Sozialität – auch das Materielle wird zum Akteur.

Doch meine liebste Definition ist die: Soziologie dekonstruiert Alltagswissen.

Alles, woran ich einmal geglaubt habe – als wäre es objektiv, gegeben, unumstößlich –
ist heute für mich nur noch eine Illusion. Eine Illusion, die sich durch ständiges, gemeinsames Draufzeigen scheinbar verfestigt,
materiell wird – und uns glauben lässt, sie sei „die Realität“. Dabei ist „Realität“ ein Konstrukt. Und alles, was konstruiert ist,
kann auch neu geformt werden. Also an all jene, die mir sagten: „Das geht nicht.“ , „Das darf man nicht.“ , „So ist das eben.“

Viel Spaß in eurer kleinen, traurigen Realität. Ich? Ich nenne meine „Naivität“ lieber: Vision.

Denn sie erlaubt es mir, die Illusionen als solche zu erkennen – und die Farben und Formen meiner Welt selbst zu bestimmen.


Einmal musste ich für meinen Job einen Artikel über die Forschung zu Teilchenbeschleunigern schreiben.
Ich hatte keine Ahnung, was genau ein Teilchenbeschleuniger ist – und dachte mir nur:
„Warum zur Hölle haben wir Menschen eine Maschine gebaut,
die winzige Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit durch die Gegend schleudert?“

Aus genau dieser Perspektive schrieb ich dann den Artikel.

Ich lernte: Teilchenbeschleuniger sind für die Physik das, was Mikroskope für die Biologie sind –
sie ermöglichen uns, Strukturen zu erkennen, die sonst unsichtbar wären. Und ich fand das faszinierend. Die Rückmeldung zum Artikel? Nicht ganz so begeistert. Unter dem Bericht stand: „Wie aus der BILD.“ Ich musste lachen.
Denn das war in meinen Augen keine Beleidigung. Sondern eine Offenbarung. Warum?

Lasst mich euch Michel Foucault ein wenig näher bringen:


Wissen ist Macht.
Doch Wissen ist kein objektiv gegebenes Gut. Wissen entsteht – durch Mechanismen. Durch Formen. Kuchenformen, in denen es gebacken wird. Es wird konstruiert – nicht gefunden. Unsere Perspektive – wie wir auf die Dinge schauen, welche Fragen wir stellen,
welche Sprache wir wählen –formt mit.

Wer kann also sagen, dass die eine Sicht „richtiger“ ist als die andere?

Foucault erzählt die Geschichte von Gregor Mendel, dem Vater der Vererbungslehre. Seine Erkenntnisse wurden lange nicht ernst genommen – nicht, weil sie falsch waren, sondern weil sie nicht in die „Kuchenform“ der damaligen Wissenschaft passten. Wissen, das keines war – weil es nicht in den Diskurs passte. Also war mein Artikel kein „Fehler“. Im Gegenteil. Er war ein Beweis dafür,
dass es andere Formen des Sehens gibt. Wir sollten uns immer wieder vergegenwärtigen: Es gibt keinen reinen Blick auf die Dinge.
Kein „einfach nur die Wahrheit erkennen“. Alles ist durchzogen von Perspektive. Und genau da setzt meine persönliche Erkenntnis an – eine Wahrheit, die mir nach einem Jahr intensiver Meditation gekommen ist.

Ich habe versucht, sie in meinen eigenen Worten zu fassen:


Der reflektive Blick – Der Blick auf den Blick   

   

Es war einmal der Blick. Der Blick, der konnte sehen, doch was er sah, das war dem Blick nicht immer bewusst. Denn der Blick, der war absolut, fest und man könnte schon meinen, dass er skulpturierte, wenn er blickte, das erblickte, was so kühn vor ihm stand und sich deutlich zeigte.   
Und wenn der Blick dann erstmal anfing in Stein zu meißeln, so fertigte der Blick ein Abbild, dessen Abbild, der Blick, selbst nicht sehen konnte.   

Aber! was sah der Blick dann? Was konnte, kann ein Blick erblicken, wenn der Blick schaut, bohrt und konstruiert – was ist diese Skulptur, die dieser Blick formt und dann für immer in den Raum stellt?   
Und was ist es, was der Blick aus uns macht, wenn wir diesen immerzu nutzen, wenn dieser immerzu unseren Berührpunkt mit der Welt darstellt?  
  
Damit wir den Blick, diesen Blick, meinen, deinen, unseren Blick selbst sehen, verstehen und daher auch greifen können, müssen wir zunächst einmal dessen Ursprung kennen, wissen woher der Blick kommt, was ihn prägt, um dann zu realisieren, dass der geformte Blick, immerzu formend ist und ist erstmal eine Sache vom Blick gefangen worden, so nimmt der Blick uns gefangen. Und wenn wir dann verstanden haben, woher er kommt und daher auch was er von uns will, dann erst, und das ist mein Wunsch, können wir dem Blick die Stirn bieten, gemeinsam, denn nur zusammen sind wir stärker als dessen Eindimensionalität.   

Im Blick selbst steckt keine inhärente Bösartigkeit, auch der Blick kommt als Tabula Rasa auf die Welt, mit einer Mission, mit der unglaublich wichtigen Aufgabe - uns zu erhalten.  So steckt im Blick zum Beginn nichts Spezifisches, als dessen Funktion, mich, dich, uns, zum Leben zu motivieren, vom Ende abzuneigen und fernzuhalten.   
Um seinen Sinn zu erfüllen, entwickelte der Blick intelligente Mechanismen, damit unsere Erhaltung nicht an festen Vorgaben, in einer stetig wechselhaften Welt, scheitert.   
Das macht den Blick so einzigartig, denn der Blick kommt als flüssige Masse und unsere Umwelt ist die Form, in die er sich legt und so dann verhärtet.   
So kennen wir den Blick, als den Blick, als meinen, deinen, unseren Blick, wo er eigentlich ein Blick ist, ein Gestaltwandler, den wir durch den Blick, nicht mehr erblicken können.   
  
Und hat sich der Blick, einmal geformt, so deformiert er alles, was uns umgibt, denn der Blick kann nur sehen, was er schon mal gesehen hat, was einmal war und nimmer sein wird, doch immer bleibt, wenn der Blick, erblickt.   
Drum füllt der Blick unser Bewusstsein mit erblickten Momenten, die längst vorüber, als Leiche in unserem Unterbewusstsein vergraben, noch immer ins Leben gerufen werden, als wären diese starren Skulpturen, eine vor uns liegende Wahrheit.   
Wahrheit gibt es nicht – den Gestaltwandler, den gibt es und weil er so real ist, ist das was er mit uns macht, unsere Realität.   
  
Wenn wir durch den Blick schauen, dann sehen wir die Form unserer vergangenen Umwelt. Schauen wir auf den Blick, dann sehen wir, was diese Form für Werkzeuge nutzt, um kalte Steine in Statuen zu wandeln, die eindrucksvoll erscheinen können – jedoch nur Eindruck sind. Und wenn ich euch sage, dass ich es satthabe, nur eine Skulptur eures Blickes zu sein, dass ich keinen Eindruck hinterlassen möchte, sondern wenn ich blicke und erblickt werde, dass ich mir wünsche, dass wir zunächst unseren Blick erkennen, um zu erkennen, dass wir den anderen nie erkannt haben. Dass wir einander sehen und hören und riechen und fühlen, doch eigentlich nicht wirklich einander sehen, hören, riechen und fühlen – Dass wir immer nur unsere Blicke blicken lassen und nicht mal erblicken, was unser Erblicken, erblickt.   
Niemand von uns hier ist eindimensional – wenn der andere spricht, so sind es seine Töne, doch unser Blick, den wir hören – aber so und das ist auch meine Sorge, werden wir füreinander lediglich Abbilder – Eindimensional.    

Was den Blick derartige Macht verleiht, ist seine Vision, die koppelt an das Gesetz der Anziehung, dass Vorsätze, Wünsche, Ziele, Fantasien, zur Wirklichkeit werden, wenn diese in uns verankert, also auch Kräfte in uns sind, die dann letztlich auch in der materiellen Welt fußfassen – So kann der Blick längst tote Masse in unsere Realität schleifen, konstruiert stetig Vergangenheit in der Präsenz, sodass wir uns eingestehen müssen – auf diese Weise gibt es kein Jetzt!  
  

Versteht ihr? Mein Blick, dein Blick, eure, unsere Blicke sind stets Abweichungen, stets Bezugspunkte, die nicht auf das Echte beziehen, sondern davon ableiten. Dass das Leben, unsere Mitmenschen, alles, nur das ist, was man darin sieht und daher auch reproduziert. Drum lasst uns aufhören durch unseren Blick zu schauen, wenn sich der andere, die andere, das Leben offenbart – sehen wir wirklich hin und damit meine ich – schauen wir auf unseren Blick, sodass wir uns von diesen lösen können, um uns gegenseitig näher zu kommen und dem Leben eine Chance geben, nicht nur altes zu konservieren, sondern auch durch die Befreiung, neues zu erkennen und zu erleben.   


Lasst mich an dieser Stelle Theodor W. Adorno aufgreifen.

Adorno erkannte, dass unsere Umwelt etwas mit uns macht. Er nannte es Physiognomie
die Weise, wie sich unser Kontext – von Dingen, Strukturen, Bedeutungen – in unser Denken, Fühlen, Handeln einschreibt. Wir schauen, im Grunde, immer in einen Spiegel, wenn wir unsere Umgebung betrachten. Unsere Mitmenschen, unsere Technologien,
unsere gesellschaftlichen Muster – all das sind Spiegelbilder unserer selbst. Wir formen unseren Kontext –
und dieser Kontext formt uns. Ein endloser Zyklus gegenseitiger Beeinflussung. Und genau dieser Gedanke
ermöglichte es mir, meinen Eltern zu vergeben. Es gibt keine durchweg guten oder bösen Menschen. Keine eindeutigen Helden.
Keine eindeutigen Schurken. Es gibt nur Produkte ihrer Umwelt.
Strukturen, die bestimmte Denk- und Verhaltensweisen erschaffen – und sich in uns verfestigen. Wir werden programmiert.
Und irgendwann glauben wir, wir seien dieses Programm. Aber das sind wir nicht. Wir sind mehr.
Unendlich mehr.


So habe ich irgendwann aufgehört, bestimmte Verhaltensweisen persönlich zu nehmen.
Ich hörte auf, sie auf mich zu beziehen. Ist jemand wütend auf mich, erkenne ich heute: Diese Person ist in diesem Moment die Wut selbst. Und wer Wut ist, kann sich nicht gut fühlen. Das hat nichts mit mir zu tun. Deshalb ist es so wichtig, durch diesen emotionalen Nebel hindurchzusehen. Würde ich die Wut auf mich beziehen und mich davon anstecken lassen, entstünde ein endloser Zyklus:

Ein Weitergeben von negativen Potenzialen. Doch wenn ich erkenne, dass es der anderen Person nicht gut geht – weil sie gerade die negativen Gefühle durchlebt – dann kann ich eine neue Möglichkeit wählen.

Ich kann helfen, den inneren Knoten zu lösen. Ich kann den Kreislauf beenden. Ein negatives Potenzial mit einem positiven aufheben.


Wir glauben oft, dass das Verhalten anderer Menschen – was sie sagen,wie sie es sagen –sie selbst sind.

Wir glauben: So und so ist diese Person. Und deshalb dürfen wir sie hassen. Abstempeln. Verurteilen. Oder vergessen.

Dabei übersehen wir etwas Entscheidendes: Auch wir sind keine feste, einheitliche Person. Genau genommen –
sind wir überhaupt keine „Person“ im klassischen Sinn. Erving Goffman wie auch Michel Foucault zeigen:
Wir befinden uns ständig im Schauspiel. Das, was wir von uns selbst sehen, ist oft nur ein Produkt der Situation, in der wir uns gerade befinden. Deshalb fällt es uns auch schwer, in offenen, undefinierten Situationen „wir selbst“ zu sein.

Wir wissen schlicht nicht, welche Darstellung uns in dem Moment von Vorteil wäre. Und natürlich wollen wir alle nur eines:
Uns gut fühlen. Wer will sich schon schlecht fühlen?

Doch wir vergessen: Unsere Umwelt prägt uns.
Wir werden programmiert.
Wir tragen unterschiedliche Codierungen in uns –

zu dem, was wir für richtig halten. Und weil sich das richtig anfühlt, halten wir es für die Wahrheit. Statt uns also über Meinungsverschiedenheiten,
Ansichten oder Gefühle zu streiten – Wundern wir uns also weniger über unterschiedliche Meinungen, Ansichten und Gefühlen zu bestimmten Themen, sondern viel mehr darüber, dass wir nicht erkennen, weshalb das so ist. 


Ich danke der Soziologie – meiner roten Pille in einer Welt voller Illusionen,
voller Schauspiel und Zwänge. Sie hat mir vor Augen geführt,
dass meine Freiheit schon immer in meiner eigenen Hand lag. Dass ich nur den Mut brauchte, auf mich selbst zu schauen – auf meine Gedanken, meinen Kontext – um zu erkennen, warum ich bestimmte Dinge tue, fühle, mich selbst aufhalte –
und daran zu ersticken drohe. Ich habe gelernt: Freiheit bedeutet, mich zu trauen, von der Norm abzuweichen.

Freiheit bedeutet, wirklich auszusprechen, was ich denke und fühle –nicht zu agieren nach fremden Richtlinien.

Freiheit bedeutet, zu erkennen, dass wir alle ein Produkt von etwas sind – und dass ich mich nicht über andere aufregen muss,
sondern sie mit Liebe, mit meinem Potenzial in angenehmere Richtungen lenken kann.

Freiheit bedeutet, nicht das Narrativ in meinem Kopf zu sein – nicht das der anderen – sondern bestimmte Potenziale zu leben,
die mich wirklich erfüllen. Freiheit bedeutet, mich im anderen wiederzuerkennen – und mich auf ihn einzulassen, statt ein starres Bild zu zeichnen, das uns beide weiter verblendet.

Und zum Schluss möchte ich den Film Cloud Atlas zitieren,
der all das, was ich fühle, so treffend auf den Punkt bringt – und mein Herz jedes Mal höher schlagen lässt:

„Unsere Leben gehören nicht uns.
Von der Wiege bis zur Bahre sind wir mit anderen verbunden – in Vergangenheit und Gegenwart –
und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte
erschaffen wir unsere Zukunft.“

Nachricht an Pella

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